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Wohin steuern wir?
Quo vadis?
Gedanken
zum 74. Jahrestag der Kristallnacht
Rabbiner Lynn Gottlieb
Blog der „Jüdischen Stimme für
Frieden“, Rabbinischer Rat. 10. 11 2012
http://palestinatalmud.com/2012/11/10/where-are-we-headed-a-reflection-on-the-
Im Nachhinein signalisierte die
Kristallnacht, was bevorstand: das Zusammentreiben
und das Auslöschen der europäischen Judenheit. Der
größte Teil der Welt intervenierte nicht und noch
schlimmer, blockierte die jüdischen Versuche, zu
fliehen. Da die Leute entweder kollaborierten oder
nichts über die Auswirkungen jedes Schrittes auf dem
Weg zum Völkermord wissen wollten, führten die
Deutschen ihre Pläne straflos und in der
Öffentlichkeit aus. Die deutschen Zivilisten
unterstützten entweder explizit oder stillschweigend
ein Regime von unglaublicher Brutalität. Sie standen
daneben, als jüdische Nachbarn und Freunde abgeholt
und getötet wurden. Akte kollektiven gewaltfreien
Widerstands, wie er in dem frz. Dorf Le Chambon
durchgeführt wurde, war selten. (Es wurden so 5000
Juden gerettet).
Ich wuchs in Allentown,
Pennsylvania, auf in der 6. Generation
nordamerikanischer Juden mit der reformierten
Tradition. Ich wundere mich noch heute über die
Weisheit meiner rabbinischen Lehrer in puncto Shoah.
Ich lernte von den Rabbinern meiner Jugendzeit, mich
vor Angst und Mistrauen nicht zu verbarrikadieren;
sie lehrten mich eher gegen Rassismus in all seinen
hässlichen Manifestationen in der Öffentlichkeit zu
protestieren, weil „Nie wieder!“ nie wieder für
jeden gilt. Sie lehrten mich, wenn einer von uns
leidet, dann leiden alle. Sie lehrten mich, dass
schweigen angesichts Ungerechtigkeit Komplizenschaft
mit Ungerechtigkeit bedeutet. Sie verknüpften diese
Lektionen mit ihrer Version von jüdischer Religion.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich diese
Lektionen in Aktionen der jüdischen Gemeinde in den
Beziehungen zu Israel anwenden muss . Ich nahm
fälschlicherweise an, dass die Shoa uns irgendwie
immunisiert hat, anderen Leid anzutun, dass wir die
biblische Lektion gelernt haben: Unterdrückt andere
nicht, da ihr selbst unterdrückt worden seid.
Als ich 17 war, reiste ich als
Austauschstudent nach Israel , wo ich mit einer sehr
unbequemen Wahrheit konfrontiert wurde, mit der ich
mich heute noch auseinander setze. Dieselben Muster
der Trennung, der Diskriminierung und
Massenverhaftung von Leuten auf Grund ihrer
Identität, dem ich in Nordamerika wegen der
jüdischen Erfahrung während der Shoah zu
widerstehen lernte – das geschieht tatsächlich in
Israel. Doch anstelle von Weißen, die Schwarze
unterdrücken, sind es hier Juden, die Palästinenser
unterdrücken. Die Rechtfertigung? Sicherheit. Aber
es klingt in meinen Ohren wie rassistische
Verachtung. 1966 erzählte mir Atallah Mansour die
Geschichte von der Nakba: die Nakba hat nie
aufgehört.
Während der letzten 40 Jahre war
ich mit allen möglichen Arten von Frieden machenden
Bemühungen zwischen den Israelis und den
Palästinensern engagiert, einschließlich Dialog,
Erziehung, Delegationen und direkter Aktion. Als ich
mich für den Jahrestag der Kristallnacht
vorbereitete, wurde ich von tiefer Unruhe gepackt.
Eine Umfrage von jüdischen
Bürgern Israels (Sept. 12) vor kurzer Zeit basierte
auf einer Auswahl von 503 Interviewern; es ist die
israelische Antwort auf Präsident Jimmy Carters
Frage: Frieden oder Apartheid? Die Mehrheit der
jüdischen Israelis haben mit Apartheid geantwortet,
wie Ehud Barak es beschrieb : „Wir hier, sie dort.“
Die meisten Israelis glauben, dass Israel ein
jüdischer Staat sein soll, der den Juden von Rechts
wegen Privilegien zugesteht – aber nicht den
Nicht-Juden . Um solche drakonischen Gesetze
aufrecht zu erhalten, die nur gegenüber den
Palästinensern angewendet werden, um sie auf Abstand
zu halten, zu marginalisieren und systematisch ein
ganzes Volk zu diskriminieren - so gründet sich
dies allein auf ihrer nationalen, kulturellen und
religiösen Identität.
Viele Leute nehmen an der
Beschreibung Israels als Apartheid-Staat Anstoß.
Doch sollten wir an der aktuellen Politik Anstoß
nehmen, die Israel gegenüber den Palästinensern
praktiziert. Leute, die sich über den
Südafrika-Israel-Vergleich aufregen, behaupten, dass
Israel nicht mit Südafrika während der Apartheidära
zu vergleichen ist, weil der Terminus Apartheid mit
Rassismus verbunden wird. Aber sie haben nicht
recht.
Rasse ist ein soziales, kein
biologisches Konstrukt. Die Anwendung des Terminus
„Apartheid“ trifft immer dann zu, wenn ein Staat im
Gesetz einen bevorzugten Identitäts-Status
kodifiziert, dann wird die Identität rassistisch
festgelegt. Die so rassistische Identitätsgruppe
wird systematisch vom Rest der Bevölkerung in
diskrete geographische Gebiete (Bantustans in
Südafrika) abgetrennt. In Palästina/Israel sind es
die Zonen A,B und C und Gaza, um sie zu beherrschen
und zu kontrollieren. Ein Apartheidstaat gewährt der
bevorzugten Gruppe den Zugang zu Ressourcen und
Begünstigungen und verweigert dieselben
Begünstigungen der verunglimpften Gruppe. Jene in
der Underdog-Rolle werden zwangsweise in für sie
bestimmte Gebiete eingeschlossen. Militärische
Unterdrückung, Massenverhaftung und unnachgiebige
Bürokratie werden angewandt, um das System der
Apartheid aufrecht zu erhalten.
Keiner deportiert sich freiwillig
aus dem Haus und vom Land seiner Familie.
Israelische Apartheid engagiert sich an
systematischer und massiver Landenteignung,
Siedlerbrutalität, an Straßen „Nur für Juden“, am
Passierschein-Regime, an der Zerstörung von Bäumen,
Beschränkungen für Familienzusammenführung,
Verhaftung von Kindern, Administrativ-Haft ohne
rechtlichen Regress, ständige militärische
Überfälle, Bewegungseinschränkungen,
schwere Einschränkungen der
Export- und Import-Kapazität, Hauszerstörungen und
die Drohung von Zerstörung, Verweigerung der Bildung
und Gesundheitsfürsorge, ungerechte Verteilung von
Wasser, interner Transfer und im Falle des
Gazastreifens eine Belagerung, die den ganzen
Streifen „unbewohnbar“ macht. Diese Bedingungen
machen Palästinenser anfällig für Massenmord.
Diese Realität zu verleugnen,
läuft auf vorsätzliche Ignoranz hinaus . Berge von
glaubwürdigen Zeugnissen, die von mehreren
Menschenrechtsgruppen, wie z.B. B’tselem, Al-Haq,
dem israelischen Komitee gegen Hauszerstörung, dem
Russel-Tribunal, dem Goldstone-Bericht und
Tausenden von Augenzeugen während sechs
Jahrzehnten gesammelt wurden, auch von
Palästinensern, jüdischen Israelis, Internationalen
und Menschenrechtsorganisationen lassen keinen
Zweifel, dass Israel eine Politik verfolgt, die eine
Beleidigung für die jüdische Geschichte darstellt.
Israels Apartheidsregime ist eine Schande gegenüber
den Werten, die mir gelehrt wurden und die für
unsere Tradition zentral sind.
Wie Angela Davis vor kurzem der
Amerikanischen öffentlichen
Gesundheitsgesellschaft sagte, man wird
Rassismus nicht allein mit Anti-Rassismus-Workshops
los. Systematischer und institutioneller Wandel
geschieht nur, wenn Menschen sich in
Massen-Protesten engagieren und nicht kooperativ mit
Politik ist, die einen korrupten Status quo
unterstützt. Deshalb haben Palästinenser uns
aufgerufen, Boykott, Divestment und Sanktionen als
eine Weise zu praktizieren, um Druck auf Israel
auszuüben, bis die Apartheid aufgelöst wird. Das
Ziel des gewaltlosen Kampfes ist nicht, Menschen zu
besiegen, sondern der Wandel des Systems. Apartheid
ist weder für die Besetzten noch für die Besatzer
gut. Es ist ein de-humanisierendes System, das eine
endlose Tragödie für alle fördert. Wir brauchen ein
neues
Paradigma.
Diejenigen, die von der Apartheid
profitieren, werden ihre Macht nicht leicht
hergeben. Die Geschichte des gewaltfreien Kampfes
hat uns gelehrt, dass diejenigen, die einen
ungerechten Status quo aufrecht erhalten, so wenig
wie möglich tun, um einen wirklichen, systematischen
Wandel zu verhindern . Sie werden mit verletzender
Gewalt jene behindern, ablenken oder unterdrücken,
die ihre Freiheit verlangen. Institutioneller Wandel
kann nur aus einer Bewegung von ganz unten kommen
und mit Standhaftigkeit. Wie alle Freiheitskämpfe,
so ist der Kampf für die palästinensischen
Menschenrechte ein universeller Kampf. Deshalb
vereinigen sich Leute jenseits von Nationalität,
Geschlecht und Religion, um politische,
wirtschaftliche und soziale Realitäten zu schaffen,
die universale Standards der Menschenrechte
umfassen.
Ungerechtigkeiten zu überwinden,
ist das Wichtigste unserer religiösen Traditionen .
An diesem 74. Jahrestag der Kristallnacht lasst uns
die Scherben der Geschichte auflesen und ein Mosaik
des Friedens legen, das die menschliche Würde von
jedem ehrt. Dies ist die wahre Bedeutung des
verheißenen Landes .
(dt. Ellen Rohlfs)
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